Es ist nicht zu übersehen: Das Goetheanum thront hoch oben auf einem Hügel über dem Dorf Dornach, eine gut 30-minütige Zugfahrt von Basel entfernt. Mit seinen geschwungenen Kurven, organischen Formen und dem völligen Fehlen von geraden Linien und rechten Winkeln fällt der monumentale, kuppelförmige Betonsolitär in der sanften Hügellandschaft sofort ins Auge. Seine Wurzeln liegen irgendwo zwischen Jugendstil, deutschem Expressionismus, Tempelarchitektur und der Arts and Crafts-Bewegung.
Das Goetheanum fungiert als globaler Hauptsitz der Anthroposophischen Gesellschaft. Es ist Veranstaltungsort für Konzerte, Theateraufführungen, Ausstellungen und Konferenzen und bietet Bildungsprogramme und spirituelle Retreats an. Die Anthroposophie wurde 1912 von Rudolf Steiner, einem esoterisch angehauchten Wanderdozenten und ehemaligen Leiter der Europäischen Theosophischen Gesellschaft, mit dem Ziel gegründet, das Spirituelle mit wissenschaftlichen Methoden zu erforschen. Das Goetheanum ist die in Beton gegossene Verkörperung von Rudolf Steiners Weltanschauung.
Das erste Goetheanum, ein expressionistischer Holzbau nach Steiners Plänen, wurde 1918 fertiggestellt. Es brannte 1921 ab, vermutlich durch Brandstiftung. Der Bau des zweiten Goetheanum begann 1924 und wurde 1928, drei Jahre nach Steiners Tod, vollendet. Im neuen Betontempel ist nichts dem Zufall überlassen, und alles hat seine Funktion: Die Kuppelkonstruktion ermöglicht grosse, luftige Räume. Grossflächige Glasfenster, zum Teil mit expressionistisch-figurativen Motiven, und Oberlichter durchfluten den Bau mit Licht.
Hier gibt es keine vorgefertigten Elemente. Alles wurde in den angegliederten Werkstätten der Anthroposophischen Gesellschaft hergestellt. Steiner und sein Team entwarfen auch Möbel und andere Objekte für das Goetheanum. Unter dem Namen Dornach Design wurden sie in Anlehnung an die geschwungene und organische Architektur gestaltet. Die Objekte zeichnen sich durch kristalline Formen und eine reduzierte Ästhetik aus.
Zum Goetheanum gehört auch eine weitläufige anthroposophische Siedlung, die im gleichen unverwechselbaren Stil errichtet wurde. Zwei bemerkenswerte Gebäude sind das Heizhaus (1915), eine doppelkupplige Betonkonstruktion, die an eine Sphinx und eine spriessende Pflanze erinnert, und das abstraktere blaue Trafohäuschen (1921). Die Dornacher Kolonie ist in eine sanft hügelige Naturlandschaft eingebettet und kann auf mehreren ausgeschilderten Spazierwegen erkundet werden.
Um eine Vorstellung von der transzendentale Kraft des Goetheanum zu bekommen, ein Flashback in die späten 1920er Jahre: Die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht Anzug und Abendkleid, sondern eher ein Art Reformkleid tragend, kommen in dem 1000 Plätze fassenden grossen Saal zusammen, um einer experimentellen eurythmischen Tanzaufführung beizuwohnen. Stellen Sie sich nun vor, wie die Musik, das einheitlich gekleidete Publikum und die fliessenden Gewänder der Tänzer mit der schwungvollen organischen Architektur, den kristallinen Holzsitzen und dem expressionistischen Fresko an der Decke verschmelzen, das die Evolution der Menschheit in psychedelischen Farben darstellt.
Die Anthroposophie gilt heute als überholt und sektenhaft. Rudolf Steiner selbst ist eine höchst umstrittene Figur. Er war aber einer der ersten, die das gestalterische Potential von Beton erkannte. Mit dem Goetheanum nahm er sich die Freiheit heraus, sich dem einschnürenden Korsett der Konventionen zu entledigen und entzog sich konsequent den Kunst-und Architekturströmungen der Zeit. Das Gebäude zählt zu den ersten Grossbauwerken, die vollständig aus Sichtbeton errichtet wurden. Anklänge finden sich in der Oper von Sydney und in den Werken von Eero Saarinen. Das Goetheanum gilt heute als eines der grossen Meisterwerke der Architektur des 20. Jahrhunderts. Das mystische Gesamtkunstwerk in der Dornacher Hügellandschaft steht unter nationalem Denkmalschutz. Es ist der Zeit immer noch um Lichtjahre voraus.