Goetheanum

Picture of Words & Photography: Karin Bürki

Text & Bilder: Karin Bürki

Goetheanum, Rudolf Steiner, Dornach, 1924-1928, Swiss Brutalism, © Karin Bürki/Heartbrut. Explore more on Heartbrut.com
Ist es noch Architektur oder schon spirituelle Erfahrung? Einigen wir uns auf Gesamtkunstwerk.

Das Goetheanum thront auf einem Hügel über Dornach, eine halbe Zugstunde von Basel entfernt, und ist nicht zu übersehen. Mit seinen geschwungenen, organischen Formen und dem völligen Fehlen von geraden Linien und rechten Winkeln sticht der monumentale Kuppelbau aus Beton in der sanften Hügellandschaft sofort ins Auge. Das Goetheanum liegt irgendwo zwischen Jugendstil, deutschem Expressionismus, Tempelarchitektur und der Arts and Crafts-Bewegung. So oder er so: es ist ein überwältigende Erfahrung.

Das Gebäude wurde als Sitz der Anthroposophischen Gesellschaft erbaut und beherbergt Konzerte, Theateraufführungen, Ausstellungen, Tagungen und spirituelle Retreats. Die Anthroposophie wurde 1912 von Rudolf Steiner gegründet und erforscht die Spiritualität mit wissenschaftlichen Methoden. Das Goetheanum ist die in Beton gegossene Verkörperung von Rudolf Steiners Weltanschauung. Das ursprüngliche hölzerne Goetheanum (1918) wurde 1921 durch Brandstiftung zerstört. Der 1928 fertiggestellte Ersatzbau zeichnet sich durch luftige Räume unter einer riesigen Kuppel, grosse Buntglasfenster und Oberlichter aus, die den Innenraum mit Licht durchfluten.

Jedes Element wurde in den hauseigenen Werkstätten hergestellt, auch die massgefertigten Möbel und Objekte im charakteristischen Dornacher Design, das sich durch kristalline, reduzierte Formen und organische Linien auszeichnet. In der umliegenden Kolonie befinden sich weitere unverwechselbare Bauten wie das Heizhaus (1915) und das blaue Trafohäuschen (1921). Die gesamte Anlage ist in einer malerischen, weitläufigen Parklandschaft eingebettet.

Rudolf Steiner war eine höchst umstrittene Persönlichkeit. Aber er erkannte als einer der Ersten das gestalterische Potenzial von Beton. Seine Vision eines «spirituellen Funktionalismus» verband Form und Ornament und lehnte die minimalistische und austauschbare «Form folgt Funktion»-Ästhetik der Bauhaus-Moderne ab. Dafür wurde Steiner belächelt und von der Architekturkritik lange ignoriert. In Frank Lloyd Wright fand er jedoch einen einflussreichen Verbündeten, der seine Philosophie teilte und argumentierte, dass Form und Funktion eine spirituelle Einheit bilden sollten.

Obwohl viele der wissenschaftlichen Behauptungen der Anthroposophie inzwischen widerlegt wurden, bleibt das genreübergreifende Design des Goetheanum ein Meisterwerk der Architektur des 20. Jahrhunderts. Als einer der ersten grossen Sichtbetonbauten inspirierte er Ikonen wie das Opernhaus in Sydney und ist heute unter nationalem Denkmalschutz. Das mystische Raumschiff ist seiner Zeit immer noch Lichtjahre voraus.

Eine Zeitreise in die späten 1920er Jahre: Die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft, im sackartigem Reformkleid, versammeln sich im grossen Saal mit seinen 1000 Plätzen, um einer experimentellen eurythmischen Tanzaufführung beizuwohnen. Stell dir jetzt vor, wie die Musik, das Publikum und die fliessenden Gewänder der Tänzerinnen und Tänzer mit der avantgardistischen Architektur, kristallinen Holzsitzen und dem expressionistischen Deckenfresko in psychedelischen Farben verschmelzen.
Steiners mystische Kunstauffassung, Interesse am Okkultismus und der Kosmologie, sein Glaube an die Reinkarnation und Vision einer spirituellen Erneuerung Europas wurde von vielen progressiven Denkern und Kunstschaffenden geteilt. Zu den Anhängern der Anthroposophie gehörten bedeutende Vertreter der Avantgarde wie Wassily Kandinsky, Piet Mondrian und Elsa af Klint. Die englische Bildhauerin Edith Maryon spielte als Leiterin der Bildhauerabteilung am Goetheanum eine prägende Rolle in der Entwicklung der anthroposophischen Kunst.

© Karin Bürki/Heartbrut

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Neumarkt Brugg, Shopping Centre, Office Tower, Gabriel Droz, Brugg, 1971-1976, © Karin Bürki/Heartbrut, Swiss Brutalism. Explore more on Heartbrut.com
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Hardau, Zurich, 1978, Brutalism, © Karin Bürki. Explore more on Heartbrut.com
St John's Church, St.Johanneskirche, © Karin Bürki/Heartbrut. Explore more on Heartbrut.com
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