Hier ist ein Vorschlag für einen Stadtspaziergang. Er führt vom geschäftigen Oerlikon im Norden Zürichs entlang einsamer Felder, vorbei an einem Bauernhof, durch den Hürstholzwald und endet in einer gepflegten Parklandschaft in Zürich-Affoltern. Zeit für eine Verschnaufpause und einen Happen. Der Picknicktisch bietet einen atemberaubenden Blick auf die beiden Betonblöcke Unteraffoltern II im Corbusier-Stil.
Wem jetzt der Bissen im Mund stecken bleibt: Ja, die beiden 40 Meter hohen und 63 Meter langen «Betonklötze» sind durchaus einen Ausflug wert. Schliesslich landeten die Brutalismusikonen im März 2023 bei einem Community-Voting des Nachrichtenportals 20 Minuten auf Platz 1 der «hässlichsten Gebäude der Schweiz». Knapp vor dem Goetheanum. «Nichts anderes als eine unschöne Betonwüste,» lautete einer der freundlicheren Kommentare.
Autsch. Dabei galten die vermeintlichen «Monster» bei ihrer Fertigstellung im Jahr 1970 sowohl architektonisch als auch sozial als äusserst fortschrittlich. Unteraffoltern II war Kernstück eines der grössten Neubauvorhaben der Stadt in der Nachkriegszeit. In den 1960er-Jahren benötigte Zürich dringend neuen und preisgünstigen Wohnraum. 1966 begann die Stadt im damals noch dörflich geprägten Affoltern mit dem Bau von fünf Wohnüberbauungen für 5000 Menschen. Allein auf Unteraffoltern II entfiel ein Drittel der über 700 neuen Wohnungen.
Die brutalistische Bauweise spiegelte den zukunftsoptimistischen und betonaffinen Zeitgeist der Boomjahre wider. Als Stilvorbild diente die Unité d'habitation in Marseille des schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier aus dem Jahr 1952. Markenzeichen: Sichtbeton, gestapelte und vertikal verschachtelte, moderne Maisonettewohnungen, Gemeinschaftsräume und integrierte Läden. Und das alles umgeben von einer gepflegten Grünanlage. Die Zürcher Antwort stammt von einem, der es wissen muss: Georges-Pierre Dubois arbeitete in den 30er-Jahren im Pariser Büro von Le Corbusier und realisierte bereits 1960 die erste Schweizer Unité im thurgauischen Arbon.
Spätestens jetzt wäre es an der Zeit, mit manchem Vorurteil aufzuräumen. Denn hinter der (für heutige Augen) abweisenden Fassade verbirgt sich ein guter Kern. Wie das Original bietet auch die Dubois-Unité eine durchdachte Wohnungsstruktur, lichtdurchflutete Maisonettewohnungen und grosszügige Gemeinschaftsräume. Das Highlight sind aber die Eingangsbereiche. Sie verfügen über einen botanischen Garten im Kleinformat mit Wasserelement. Die Briefkästen in leuchtendem Gelb, Grün, Blau und Orange sind so einladend, dass auch der Picknicktisch durchaus Sinn macht.
Ende der Neunzigerjahre wurde die beiden Blöcke einer umfassenden Instandsetzung unterzogen, bei der die Fassade aufgefrischt und in den Eingangshallen eine rollstuhlgängige Rampe eingebaut wurde. Veränderte Wohnbedürfnisse und der Wunsch nach einer diverseren Mietermix führten dazu, dass 2002-2003 ein Drittel der 264 Wohnungen zu grösseren Einheiten zusammengelegt wurde. Jedes Gebäude verfügt nun über jeweils 118 Wohnungen mit 1 bis 5 1⁄2 Zimmern, in denen bis zu 250 Personen leben.
Wer jetzt immer noch Monster sieht: Der Katzensee liegt auf der anderen Seite der Autobahn.