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Rohe Romantik

Castasegna ist ein malerisches Grenzdorf im Bergell, einem Bergtal zwischen dem Malojapass und Chiavenna. Nur einen Steinwurf von der italienischen Grenze entfernt, versprüht ein polygonaler, kieselsteinfarbener Betonturm hoch über der Hauptstrasse ein unerwartetes Gefühl von Urbanität. Er befindet sich im Obstgarten der Villa Garbald, ein herrschaftlichen Landhaus aus dem 19. Jahrhundert, das von Gottfried Semper entworfen wurde. Inspiriert von den lombardischen Vogeljagdtürmen, den so genannten «Roccoli», entwarfen Quintus Miller und Paola Maranta den Roccolo-Turm als Ergänzung und zeitgenössischen Kontrapunkt zum Semper-Bau, dessen Renovierung das Architektenduo ebenfalls übernahm. Die wegweisende Neuinterpretation der Bergeller Baukunst brachte dem Basler Büro internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Das fünfstöckige Gästehaus ist zweifellos ein gewagter Wurf. Aber keineswegs negativ. Die Fenster mögen ungleichmässig angeordnet sein, und das Dach sieht von oben betrachtet aus wie ein gestrandetes U-Boot. Dennoch fügt sich der ambitionierte Neubau perfekt ins Dorfbild ein. Der Turm harmoniert wie selbstverständlich mit den eng gebauten Häusern, verwinkelten Gassen, ausgedehnten Kastanienwäldern und hoch aufragenden Bergen. Das hat damit zu tun, dass der Roccolo im Wesentlichen ein lokal gesourctes Produkt ist: Die Betonplatten wurden kurz nach dem Entschalen mit Hochdruckwasserstrahlen besprüht, um den Kies des Flusses Mera freizulegen. Die unebene, gesprenkelte Oberfläche ist ein perfekter Lebensraum für die lokale Moospopulation. Während die Wände des Turms bereits die charakteristischen Farbtöne der Umgebung annehmen, werden die Fensterrahmen und -läden aus Lärchenholz mit der Zeit so grau ausbleichen wie die umliegenden Schieferdächer.

Im Jahr 1862 beauftragten Agostino Garbald, der junge Zolldirektor der Region, und seine Frau, die Dichterin Silvia Andrea, Gottfried Semper mit dem Entwurf einer Villa. Im Stil eines lombardischen Landhauses erbaut, ist sie das einzige Objekt, das der "Starchitekt" aus dem 19. Jahrhundert südlich der Alpen realisierte (obwohl Semper bekanntlich nie einen Fuss in Castasegna setzte). In den späten 1990ern geriet die Villa immer mehr in Vergessenheit. Eine dringende Verjüngungskur war angesagt. Im Jahr 2002 gewann das Basler Architekturbüro Miller & Maranta den Wettbewerb für die Restaurierung und Erweiterung des Anwesens. Heute dienen die von der Fondazione Garbald unterhaltene Villa und der Roccolo-Turm als Seminarraum und Rückzugsort für die ETH und die Universität Zürich sowie für weitere Gruppen und Veranstaltungen in den Bereichen Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft.

Castasegna, Roccolo, Villa Garbald Extension, Miller & Maranta, Canton of Grisons, © Karin Bürki / Heartbrut.com

© Karin Bürki/Heartbrut