Suchen...
Close this search box.
TRIEMLI TOWER I ESTHER & RUDOLF GUYER I ©HEARTBRUT/KARIN HUNTER BÜRKI

Zürich Brutal

Der Triemli-Turm in Zürich ist eine brutalistische Zumutung. Wie lebt es sich darin?
Karin Bürki

Karin Bürki

Words & Photography: Karin Bürki

Die Sicht vom 12. Stock reicht bis in die Glarner Alpen. Aber nicht heute. Es ist ein kaltgrauer Novembertag. Der Nebel hat den Uetliberg verschluckt und frisst sich in die Kuhweiden am Stadtrand von Zürich.

Es bleibt freie Sicht auf die Betonikonen Triemlispital und Hotel Atlantis, wo einst Steve McQueen, Muhamad Ali und Freddy Mercury abstiegen. Es könnte ein Sonntag im Jahr 1972 sein.

Der 15-geschossige, 43 Meter hohe Triemli-Turm von Esther und Rudolf Guyer aus dem Jahr 1966 sieht aus wie ein vom Himmel gefallener Monolith, der mit seiner rohen Geometrie Moden und Zeiten trotzt. Der weithin sichtbare Solitär unternimmt nicht einmal den Versuch zu gefallen oder sich um sein schroffes, verwittertes Äusseres zu kümmern.

Mit seiner radikalen Anti-Ästhetik ist der Wohnturm der wahrscheinlich konsequenteste Schweizer Vertreter des Brutalismus. Dessen Kernmerkmale definierte der britische Architekturtheoretiker Reyner Banham wie folgt: «Was den New Brutalism charakterisiert, ist genau seine Brutalität, der je-ne-m’en-foutisme, seine unverfrorene Sturheit.»

Im designvernarrten Zürich, das stets hoch hinaus will, jedoch eine ausgeprägte Aversion gegen schattenwerfenden Hochhäuser pflegt, ist der Betonturm vor allem: eine Zumutung. Im August wählte ihn die Leserschaft des Pendlerportals «20 Minuten»  zum “hässlichsten Gebäude der Schweiz”. Aber wie wohnt es sich darin?

Erstaunlich gut. Fragt man die Bewohner, schwärmen sie von der
weitläufigen Aussicht, den ruhigen und bezahlbaren Wohnungen, Nähe zur Natur und ausgezeichneten Tramverbindungen in die City. Die rautenförmig angelegten Zweieinhalb- und Dreizimmerwohnungen sind mit 42, respektive 55 Quadratmetern zwar für heutige Verhältnisse kompakt bemessen. Dank gut geschnittenem Grundriss und Designdetails wie Schiebetüren, hohen Decken, bodentiefen Fenstern und Klötzchenparkett wirken sie jedoch wesentlich grosszügiger. Jedes Zimmer hat seinen eigenen kleinen Balkon. Im Fünfeinhalbzimmer-Penthouse kann man den ganzen Tag der Sonne nachrennen.

Der Triemli-Turm war ursprünglich als Bettenhaus für die Krankenschwestern des benachbarten Triemlispitals konzipiert, von denen einige immer noch hier wohnen. Bald schon zogen aber auch Familien mit Kindern ein, was eigentlich überhaupt nicht ging, da die Stadt Zürich noch bis in die Achtzigerjahre hinein Hochhäuser als dafür nicht geeignet betrachtete. Bis vor wenigen Jahren war der Turm bei indischen Familien sehr beliebt. 

Im Zug der sich auch im Friesenbergquartier rasch ausbreitenden Gentrifizierung werden sie vermehrt von jungen, berufstätigen Singles abgelöst. Die Architekturbranche ist vor allem in den oberen Etagen gut vertreten. Manche träumen davon, das Haus als Genossenschaft zu führen und es als erstes von den nachträglich angebrachten innenarchitektonischen Irrungen, wie dem Kunststein im Eingangsbereich, zu befreien.

This text was originally published in +41 magazine in 2019. The independent print publication by Wiewaersmalmit covers everyday culture in Switzerland