- Rue de l'Église, Hérémence
- Sakralbau
- Objekt von nationaler Bedeutung
- Objekt Nr. 19 der Carte Brute
Die Kirche Saint Nicolas im Walliser Bergdorf Hérémence ist das Matterhorn des Schweizer Brutalismus. Das imposante Urgestein ist nicht nur für Sichtbeton-Jünger eine Offenbarung. Auf zur Pilgerreise.
Hässlich, grau, massiv, klotzig, unheimlich: Ja, die Schweizer Berge hatten jahrhundertelang einen miserablen Ruf. Bis Rousseau, Goethe, Byron, Schiller, Rossini und eine Handvoll weiterer Topstars der Aufklärung und Romantik die helvetischen Geröllhalden neu entdeckten. In den Salons der europäischen Metropolen verfiel die Aristokratie der schwärmerischen Sehnsucht nach dem einfachen Leben der Bergler und machte sich auf, die sublime Schönheit der Alpen zu erkunden. Schliesslich hatte man auch in der Schweiz nicht mehr Granitblöcke, Grauen und Gefahr vor Augen, sondern Sonnenuntergänge, Seen und sprudelnde Geldquellen. Seither mögen auch wir die Berge.
Die wilde Gebirgsnatur scheint nun so gar nicht das ideale Habitat für Nachkriegs-Betonarchitektur zu sein. Und doch sind die Gemeinsamkeiten offensichtlich: Mit ihrer Schroffheit und brachialen Anmutung lösten die brutalistischen Solitäre bis vor kurzem ähnliche Ängste und Abwehrreaktionen aus, wie einst die Berge vor Goethe und Co. Dank ihrer Fotogenität und Ästhetik des Einfachen und Unverfälschten erobern die Urgesteine der Moderne aber die Herzen, respektive die Instagram-Accounts einer wachsenden Fangemeinde aus aller Welt. Dass Beton und Berge sehr gut miteinander können, beweist die Kirche Saint Nicolas im Walliser Bergdorf Hérémence im Eringertal.
© Karin Bürki/Heartbrut
© Karin Bürki/Heartbrut
Total work of art meets multi-purpose building
Der am 31. Oktober 1971 eingeweihte, 17 Meter hohe und sich über mehrere Plateaus erstreckende Komplex wirkt mit seinen Knicken, zahlreichen Öffnungen, Ecken und Kanten wie direkt aus dem Steilhang gehauen. Die Betonkirche gilt als das unbestrittene Matterhorn des Schweizer Brutalismus.
Ihre Geschichte beginnt mit einer Katastrophe. Ein Erdbeben zerstörte 1946 die alte Kirche. Die Gemeinde schrieb einen Wettbewerb für einen Ersatzneubau aus. Die Jury entschied sich für das Projekt von Walter Maria Förderer. Der Bildhauer und Architekt mit Büro in Basel hatte sich mit aufsehenerregenden expressiven Sichtbetonbauten international einen Namen gemacht und galt als Koryphäe des brutalistischen Kirchenbaus. Wer Förderer bestellte, bekam keine profane Kirche geliefert, sondern die moderne Dreifaltigkeit aus unbedingtem Glaubensbekenntnis, Gesamtkunstwerk und pragmatischen Mehrzweckbau.
Ausserdem kannte man sich in Hérémence mit Beton und Monumentalbau bereits bestens aus. Am Ende des Tals entstand von 1951-1961 die Grande Dixence. Mit 285 m Höhe ist die Gewichtsstaumauer bis heute die höchste der Welt. Die lokale Bauindustrie hatte reichlich Know-how gesammelt. Im Steinbruch oberhalb des Stausees lag noch reichlich Geröll herum. Der Wasserzins sprudelte gutes Geld ins Tal. Beton löste daher keine Berührungsängste aus. Im Gegenteil. Er verhiess wirtschaftlichen Aufschwung.
© Karin Bürki/Heartbrut
© Karin Bürki/Heartbrut
«Man kann nicht anders, als ergriffen vor der architektonischen Wucht des Gesamtkunstwerks auf die Knie zu sinken»
Die Erklimmung das Sakralikone beginnt eher weltlich. Der Sockelbau an der Rue Principale integriert eine Bar, Dorfladen, Postschalter und öffentliches WC. Wettergegerbte Chalets säumen die enge Strasse. Betontreppen führen hinauf zum Mittelplateau. Es ist ein karger und exponierten Platz. In der Mitte plätschert ein Brunnen aus ineinander verschachtelten Betonblöcken mitsamt Geranien-Arrangement in Pink. Die zugige Esplanade dient auch als Passage zur Schule, Turnhalle und der Gemeindeverwaltung, ebenfalls Gebäude aus Sichtbeton. Vor allem aber befindet sich hier, etwas versteckt, das eigentliche Eingang zur Kirche. Es lohnt sich, etwas innezuhalten und die Kräfte zu schonen, denn ab jetzt droht Schnappatmungsalarm.
For the monumental interior is a revelation, even for the hard-boiled and faithless. The vast, grotto-like, hexagonal space could potentially fit in 1000 people. Expressionist concrete structures immediately enthrall the eyes. Indirect light that falls through strategically placed openings in the jagged ceiling, adds further thrills and chills. The liturgical elements are made of wood and live the open and inclusive spirit of Vatican II, held in 1962-1965. Along the walls and ceiling, wooden frames absorb the noise and house paintings from the old church. One cannot help but sink to one’s knees, such is the architectural force of the total work of art. No miracles were needed for Förderer’s masterpiece to be swiftly awarded national heritage status.
© Karin Bürki/Heartbrut
© Karin Bürki/Heartbrut
The concrete heart and soul of the village
Doch die Reise ist noch nicht zu Ende. Via Treppen erreicht man die Rue d’Église, wo sich der Postauto-Halt sowie der Zugang zum Kirchturm befindet. Hier zeigt sich Förderer ganz von seiner pragmatischen und serviceorientierten Seite: Im Turm ist eine Bibliothek untergebracht. Ganz zuoberst lockt eine Aussichtsplatform. Sie bietet eine grandiose Rundumsicht aufs Dorf, die weissen Erdpyramiden von Euseigne auf der benachbarten Talseite, die schneebedeckte Dent Blanche und weitere hochalpine Gipfel.
Mit ihren 50 Jahren ist die Saint Nicolas Kirche in den besten Jahren angekommen. Die robuste Bergbetonikone hat, mit Ausnahme des Dachs, das einer Renovation unterzogen wurde, und den Treppen, denen das Salzen im Winter nicht sehr gut bekommt, keine kosmetischen Eingriffe nötig. Ganz im Gegenteil. Der perfekt ins Gelände eingebettete, multifunktionale Sakralkomplex bleibt in seiner Radikalität der Zeit voraus. Anders als viele Exponenten der zeitgenössischen Alpinleuchtturm-Architektur, ist der brutalistische Betonfels zentral im Dorfleben verankert.
Und die Romantiker? Hätten ihre wahre Freude an Förderers erhabenem Findling gehabt. In den zerklüfteten Felsformationen, verwinkelten Treppen und heiligen Höhlen, da prallen sie zusammen, die grossen helvetischen Sehnsuchtskulissen, die Mythen und die Moderne, die Berge und der Beton. Wie dem auch sei und komme, was wolle. Das Betonherz von Hérémence schlägt weiter, gross, unkaputtbar und schön. Amen.
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